[p.191] DE DOCTA IGNORANTIA
LIBER PRIMUS
DIE WISSENDE UNWISSENHEIT
ERSTES BUCH
[p.193] DEM GOTTGELIEBTEN EHRWÜRDIGEN VATER
HERRN JULIANUS, DES APOSTOLISCHEN STUHLES
WÜRDIGEM KARDINAL, MEINEM VEREHRTEN
MEISTER
Dein hoher und schon oft erprobter Geist wird sich mit
Recht darüber verwundern, daß ich, während ich in allzu
unvorsichtiger Weise meine ungereimten Albernheiten auszubreiten
wage, dich um dein Urteil ersuche, so als ob dir
trotz deiner Tätigkeit am apostolischen Stuhl, wo du mit
den wichtigsten öffentlichen Angelegenheiten überhäuft bist,
noch Muße bliebe, und als ob dich, der du dir zur vollkommensten
Kenntnis aller bislang berühmten lateinischen
Schriftsteller nun auch noch die der griechischen angeeignet
hast, der ungewöhnliche Titel meiner wahrscheinlich ungeschickten
und unpassenden Gedanken anziehen könnte –
denn die Fähigkeiten und die Art meines Denkens sind dir
schon lange wohlbekannt. Aber ich hoffe, daß nicht sosehr
der Glaube, hier etwas bisher Unbekanntes zu finden, als
vielmehr die Verwunderung über die Kühnheit, durch welche
ich mich verleiten ließ, über die wissende Unwissenheit zu
schreiben, deinen wißbegierigen Geist bestimmen wird, Einblick
in meine Arbeit zu nehmen.
Die Naturlehre sagt, daß dem Hunger ein unangenehmes
Gefühl am Eingang des Magens vorangeht, auf daß die
Natur, sich selbst zu erhalten bemüht, angeregt werde, sich
zu kräftigen. So glaube ich mit Recht, daß das Staunen, die
Ursache des Philosophierens, dem Wissensbegehr vorausgeht,
damit der verstehende Geist, dessen Sein Verstehen ist, durch
das Streben nach Wahrheit vollendet werde. Das Seltene,
auch wenn es seltsam und ungeheuerlich ist, pflegt uns zu
beeindrucken. Gemäß deiner Güte, einziger Lehrmeister,
mögest du darum erachten, daß hier etwas Würdiges verborgen
ist und von einem Deutschen diese Erwägungen über
die göttlichen Dinge, welche mir die gewaltige Mühe so lieb
machte, entgegennehmen.